Unverstellte Aussichten, bewaldete Endmoränenhügel, Dorfteiche, Eichenalleen, Seen- und Moorlandschaften, all dies gehört zur Mecklenburgische Schweiz, aber nicht nur.
Titel wie „Heimat ist da, wo hinterm Netto ist“ oder „Neubrandenburg: Urlaub ohne Anspruch“ machten schnell klar, dass es beim ersten Poetry Slam am 18.09. auf dem Projekthof Karnitz nicht um Folklore für das Tourismusprospekt und die Beschwörung ländlichen Idylls in der Mecklenburgischen Schweiz ging. Neben Wischen, Köh und Böhm gibt es hier eben auch die besten Plattenbauten der 70er, 80er und 90er und Agrarindustriewüsten. Bei den insgesamt siebzehn Bühnenauftritten wurde in jeweils ganz eigenem, persönlichen Ton von den Erinnerungen und Begegnungen erzählt, die ein Leben ausmachen und unterschiedliche Leben miteinander verbinden. Von gefundenen und zerbrochenen Freundschaften und Lieben, von wiedergefundenen Kindheitserinnerungen und politischen Umbrüchen war die Rede, mal in Reimform, mal als Romanauszug, und davon wie all diese Stränge von hier Geborenen, Zugezogenen und hierher Geflüchteten mal mehr, mal weniger zufällig hier zusammenkamen und zusammenkommen. Die zwölf bis zweiundsiebzig Jahre alten Teilnehmer*innen teilten Erlebnissen ihrer Kindheit, des Erwachsen und Älterwerdens mit uns, Erinnerungen an das Spielen im Torfmoor bis zum Sonnenuntergang, an den Geruch nach Kuhstall, an das Baden in der Peene, an das Chillen in der Busse (Haltestelle) oder an ruckelndes Netflix. An Begegnungen mit inspirierenden Fremden, an prägende Bücher, an die Schlosserlehre und die Arbeit im Stahlwerk, in der LPG oder auf Montage im Westen, an den aufrechten Gang, den man bei der friedlichen Revolution von 1989 lernte und daran, wie trotz aller Anfeindungen trotzig am eigenen Lebensweg oder an den unterschiedlichen Herkünften und Sprachen der Eltern festgehalten wurde, ob Plattdeutsch oder Ungarisch.
Die Mecklenburgische Schweiz, das wurde an diesem Abend deutlich, kann „Fluch und Segen“ sein und setzt sich aus einem Mosaik unterschiedlichster Herkünfte zusammen. Und bei aller Vielstimmigkeit, da schien sich die bunt gemischten Riege aus Jung- und Alt-Slammern einig, kann es keinen Platz geben für „Rührseligkeit und rechte Seufzer nach der ländlichen Scholle“ (Tim Urbanek). Und die „Heimat“, was ist mit diesen schwierigen Begriff, der zumindest hinter dem Netto in Demmin „abwechselnd ausgeschildert wurde als Reichszone und geistreiche Zone“ (Baldo Kabuß)? Auch den Heimatbegriff, so Anna Schröder, sollten wir nicht den „Ausgrenzern“ überlassen: „Heimat ist, wo sich Leute vor Ort für ihren Ort engagieren“, sie „ist zum Teilen da, für die, die Heimat haben und für die, die Heimat suchen“. „Was wollt ihr hören“, fragte denn auch die Gewinnerin des Poetry-Slam Amina Kanew, „dass ich etwa Heimat gut finde, und das bisschen Ausgrenzung mitunterstütze, einen Slam schreibe über Herkunft in der Mecklenburgischen Schweiz, über atemberaubende Landschaften und das faszinierende Tierreich? Wie kann Heimat eine Hautfarbe haben?“ Und an dem langen Abend wurde auch klar, dass auch wenn es nur einen Bus in die Stadt gibt, die Laternen um 10 ausgehen, und Youtube noch bei 144p wackelt, Mecklenburg eben nicht die Gegend sein muss, wo man einschläft ohne es zu merken, wenn wir uns bewegen, uns einbringen, neue Leute kennenlernen, Perspektiven wechseln.
Marco Clausen, 29.09.2020
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